Walter Hollstein
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GESELLSCHAFT


Der Zusammenhang: Als Kinder werden wir von unseren Eltern erzogen. Die Sozialwissenschaften nennen das die „primäre Sozialisation”. Dabei lernen wir, dass es ausser uns auch noch andere Menschen gibt. Wir lernen, dass auch diese anderen Menschen ihre berechtigten Bedürfnisse haben und dass wir diese Bedürfnisse so respektieren müssen wie die anderen Menschen die unsrigen. Geregelt wird dieser Umgang von Normen und Werten, von Regeln und Gesetzen, von Sitten und tradierten Gebräuchen. Das alles wird uns schon als Kind vermittelt - sukzessive, aber eindringlich. In seinem soziologischen Klassiker „Die einsame Masse” schreibt David Riesman von „einem seelischen Kreiselkompass”, der, wenn er einmal von den Eltern in Gang gesetzt ist, später auch die Signale von anderen aufnehmen kann. Riesman nennt das den „innen-geleiteten Menschen”.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich menschliche Wirklichkeiten in einem dramatischen Maße verändert. Kulturphilosophisch orientierte Autoren wie Karl Jaspers und Albert Schweitzer oder – in unseren Tagen - Richard Sennett und Zygmunt Bauman haben darauf schon seit längerem aufmerksam gemacht. Bereits in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts diagnostizierte Albert Schweitzer in seiner Schrift „Der heutige Mensch”: „Es hat sich eine Mentalität der Gesellschaft herausgebildet, die die einzelnen von der Humanität abbringt. Die Höflichkeit des natürlichen Empfindens schwindet. An ihre Stelle tritt das (...) Benehmen der absoluten Indifferenz”. Kurz gefasst: Ich-gesteuert statt innen-geleitet. „Innen-geleitet” hatte immer auch den anderen Menschen mitgedacht, sein Daseinsrecht, seine Bedürfnisse und berechtigten Erwartungen. „Ich-gesteuert” hingegen ist rein eigennütziges Kalkül, nicht nur selbstbezogen, sondern selbstherrlich, durchsetzig gegen andere, pur rücksichtslos.

Diese Veränderung ist nicht einfach vom Himmel gefallen; an ihr ist eine gesellschaftliche Dynamik beteiligt, die soziologisch im Begriff der „Individualisierung” erfasst wird. Damit gemeint ist, dass das Leben von Frauen und Männern aus weiland gott- oder gesellschaftsgesetzten Umständen „befreit” ist. Zwänge, wie sie früher bestanden, haben sich aufgelöst und uns in die alleinige Verantwortung für unser Leben geworfen. Religiöse Determinationen, soziale Bestimmungen, Standesschranken, Milieugrenzen, Traditionen und eingrenzende Wertvorstellungen sind zusammengebrochen. Damit können wir unsere Lebensentscheidungen selber treffen; wir müssen es aber auch. „Alles ist möglich”, ist der Slogan der Epoche. Aber ist denn wirklich alles möglich? Und: Tut uns das gut? Grenzen haben ihre Bedeutung für uns Menschen. Das gilt nicht nur in einem vergleichsweise banalen Sinne in der Politik, sondern auch in einem ganz tiefen anthropologischen Verständnis. Grenzen sind unverzichtbar für unsere Identitätsfindung. Alles ist niemals lebbar, nur die sinnvoll getroffene Auswahl ist es. Dabei hilft nicht zuletzt das Empfinden der Scham. Ohne Beschränkung verliert sich der Mensch. Grenzen bedeuten Sicherheit, Schutz und Orientierung. Fallen sie, drohen Desorientierung, Unsicherheit und Labilität.


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